Der Löwenbändiger und der Zauberer Zitronenquetscher

Ich weiß nicht; ich bin mir nicht ganz sicher, ob es einhundertzwei oder einhundertdrei Raubtiere waren, die der Tierbändiger Victonorio in seinem Leben schon gezähmt hatte. Dabei hatte er ein ganz weiches Herz. So hatte er noch niemals daran gedacht, Flöhe, Hunde, Kaninchen oder ähnliche Tiere zu dressieren, denn er schämte sich, wie er es ausdrückte, kleine Tiere „auszunützen". „Mit Tieren, die kleiner sind als ich, beginne ich keinen Streit", sagte er immer, „aber mit allen anderen, vor allem mit Löwen." Es war seine Schwäche, Löwen zu bändigen, aber er zähmte auch Tiger, Panther und Krokodile.

Er hatte vor keinem Raubtier Angst, wirklich vor keinem, und die Raubtiere hatten keine Angst vor ihm. Denn er bändigte sie im Guten: Er gab ihnen gutes Essen, manchmal sogar Süßigkeiten. Er pflegte sie, wenn sie verletzt oder krank waren, und die Raubtiere taten alles, was Victonorio wollte. Wohin sollten sie auch gehen? Nirgends hatten sie es besser als bei ihrem Herrn. So sagten die Raubtiere immer wieder zu ihm: „Hab keine Angst, Victonorio. Auch wenn du siehst, dass wir im Zirkus sehr wütend werden und sogar unsere Pfoten durch die Käfiggitter schieben, achte nicht darauf: Wir tun das nur, um die Leute zu erschrecken. Aber du brauchst keine Angst zu haben, denn dir werden wir nichts tun."
Und so war es. Im Zirkus rissen alle Raubtiere ihr Maul weit auf und brüllten: „Ahuuuh!", aber weiter geschah nichts. Bis Victonorio selbst in der Arena erschien - in Uniform, in einer roten Jacke mit einem Pelzkragen und vielen goldenen Borten, mit hohen Reitstiefeln und einem spitzen, nach oben gebogenem Schnurrbart.
Später, im engsten Freundeskreis, trug er Leinenschuhe, eine Leinenhose und einen Hauskittel, und sein Schnurrbart war nicht gezwirbelt, sondern hing einfach nach unten. Und er setzte sich mit den Tieren zusammen, wie mit einer Familie.

Das schlimmste aber war, dass der Arme dabei nur ein paar Pfennige verdiente. Und es war so teuer, die Familie zu unterhalten! (Denn die Familie waren ja seine Raubtiere.) Der arme Victonorio gab ihnen so viele gute Sachen, dass ihm niemals auch nur zehn Groschen übrigblieben.
Eines Tages warf ihn sein Hauswirt aus dem Haus, weil er seit zwei oder drei Monaten keine Miete mehr gezahlt hatte. Außerdem wollte der Hausherr mit dem Zimmer mehr Geld verdienen.
Der arme Victonorio musste nun eine neue Wohnung suchen. Und nach langem Suchen fand er endlich eine, die für ihn richtig war. Victonorio wusste aber nicht, dass das Haus dem Zauberer Zitronenquetscher gehörte, einem sehr schlechten und sehr bösen Zauberer. Als dieser den gutmütigen Victonorio sah, kannte er kein Erbarmen.
Wenn Sie Hunde haben, vermiete ich Ihnen die Wohnung nicht."
„Nein, mein Herr" antwortete Victonorio, „ ich habe keine Hunde."
„Wenn Sie eine Katze haben - ich mag gar nicht daran denken -, vermiete ich Ihnen die Wohnung nicht."
„Nein, mein Herr, ich habe keine Katze."
„Wenn Sie Vögel haben, vermiete ich Ihnen die Wohnung nicht."
„Nein, mein Herr, ich habe keine Vögel."
„Und, um Himmels willen, ich möchte gar nicht daran denken, wenn Sie eine Frau haben, vermiete ich Ihnen die Wohnung erst recht nicht."
„Nein, mein Herr", antwortete Victonorio, „ich habe auch keine Frau."
„Wenn Sie mir nicht auf der Stelle für vier Monte die Miete zahlen, vermiete ich Ihnen die Wohnung nicht."
Das war unmöglich! Woher sollte er so viel Geld nehmen! Er flehte, er weinte, er fiel vor dem Hauswirt auf die Knie. Aber den grausamen Zitronenquetscher kümmerte das nicht im Geringsten. Victonorio ging verzweifelt fort.
Ihm blieb nichts anderes übrig als ein paar Löwen zu verpfänden. „Ihr müsst hierbleiben", sagte er zu ihnen, als er sie im Pfandhaus abgab. „Ihr müsst solange hierbleiben, bis ich genug Geld habe und euch wieder abholen kann."
Die armen Tiere gehorchten und verhielten sich ganz still. Der berühmte Tierbändiger aber schämte sich so sehr, dass er ganz verlegen war. „So viele Raubtiere habe ich schon gebändigt, und mit dieser Bestie von Zauberer soll ich nicht fertig werden? Das darf nicht sein. Wie soll ich nun vor meine Tiere treten" Das darf ich nicht zulassen."
Und nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, hatte er eine großartige Idee. „Ich hab's, ich hab's", rief Victonorio verrückt vor Freude. Ja, das war's. Nicht Victonorio, sondern der Zauberer Zitronenquetscher sollte bezahlen.

Victonorio ging also zum Zauberer, gab ihm die Monatsmieten, die er im Voraus verlangt hatte, und noch mehr, so viel er wollte. „Aber natürlich, aber natürlich, aber natürlich! antwortete der Tierbändiger dem Zauberer auf jede Bedingung, die der grausame Alte dem armen Victonorio stelle. Schließlich unterschrieben sie den Vertrag, und Victonorio ging fort und - na, was machte er wohl? - er kam mit seinen Raubtieren wieder zurück.
Der Panther stieg aufs Dach. Der Tiger sprang die Treppenstufen hinauf. Das Treppengeländer dienste drei kleinen Schimpansen als Rutschbahn. Und vor dem Eingang zur Pförtnerloge hatte es sich der Löwe in aller Ruhe gemütlich gemacht. Dem Pförtner standen die Haare zu Berge. Er lief eiligst davon und kletterte wie ein verrückter die Fassade eines Turms hinauf.

Ich brauche euch wohl nicht zu sagen, dass der Zauberer Zitronenquetscher ganz starr vor Schreck war, als er sein Haus betrat. In der Vorhalle saß Victonorio zurückgelehnt und mit übereinander geschlagenen Beinen in einem Sessel und trällerte ein Liedchen:" Warum bin ich so fröhlich, so fröhlich, so fröhlich, so ausgesprochen fröhlich, so fröhlich war ich nie!"
„Ja, was ist denn hier los?" fragte der Zauberer.
„Nun, was soll schon los sein?" sagte Victonorio, „Das ist meine Familie."
„Warum haben Sie mir denn nichts davon gesagt, dass Sie so eine Familie haben?"
„Haben Sie mich denn danach gefragt? Sie haben mich nach einer Frau gefragt, nach einem Hund, nach einer Katze, nach Vögeln, nach allem möglichen, aber nicht nach meinen Tieren."
„Wer hätte denn auch an sowas denken können? Das ist ja ein Skandal. So eine Schande! Verlassen Sie sofort mein Haus!", schrie der Zauberer wütend.
„Ihr Haus? Jetzt ist es meines. Ich habe einen Vertrag unterschrieben. Und außerdem, wenn Sie mich anschreihen, klatsche ich in die Hände und..."
Ham! Als der Löwe das Klatschen hörte, ging er auf den Zauberer los, biss ein riesiges Stück aus seinem Gehrock und legte sich dann wieder ruhig hin.
Der Zauberer war außer sich vor Angst; die Worte blieben ihm im Hals stecken, und er wäre beinahe erstickt. Schnell lief er auf die Straße. Und was meint ihr, was geschah? Niemand wollte ihm zuhören und niemand wollte ihm helfen, Victonorio aus seinem Haus zu vertreiben.

Der Richter meinte, dass der Tierbändiger laut Vertrag das Recht habe, alle Arten von Tieren in das Haus mitzunehmen, ausgenommen Katzen, Vögel und Hunde.
Und da der böse Zauberer keine Freunde hatte, die ihr Leben für ihn aufs Spiel setzen wollten, und da die anderen Hausbewohner aus dem Haus liefen, blieb dem Zauberer Zitronenquetscher nichts anderes übrig, als Victonorio zwei Millionen, drei Millionen, ja, sechs Millionen zu bieten, damit der verschwinden würde.
Und mit diesen sechs Millionen konnten Victonorio und seine Löwen noch lange glücklich leben.